Ich habe mich die letzten Tage gefragt, ob ich darüber schreiben soll. Am Ende hat dieser Blog ja auch viel mit Elternsein zu tun, deswegen macht es dafür vielleicht Sinn. Vielleicht hilft es mir auch, beim Schreiben loszulassen. Wir werden sehen. Es ist ein Versuch. Wenn Ihr dies lest, dann werde ich mich wohl entschieden haben.
Dass ich in den letzten Wochen nichts geschrieben habe, hat nicht damit zu tun, dass unsere Tochter nun wohl doch in großen Stücken trocken ist. Tagsüber 100%ig, und auch nachts sieht es ziemlich gut aus. Nein. Es ist ein Ereignis eingetreten, das zwar irgendwie schon vorhersehbar war, aber nun doch so plötzlich kam, dass ich es noch nicht so wirklich realisiert habe. Ich bin in tiefer Trauer über meine geliebte Mutter. Uns verband ein enges Band, und ich möchte sie Euch gern ein wenig vorstellen, damit Ihr auch etwas von ihr mitbekommt.
Meine Mutter ist im Süden Vietnams zur französischen Kolonialzeit aufgewachsen. Sie hatte es nicht immer leicht, denn sie war mal so reich, dass sie ein eigenes Kindermädchen hatte, und dann wieder so arm, dass sie mit ihrer Mutter Fahrradsattelbezüge strickte, um etwas zum Haushalt dazuverdienen zu können. Aber sie war immer glücklich. Denn sie hatte eine Mutter, die nicht nur besonders stark und unabhängig war, sondern auch von größter Gelassenheit gesegnet. Was sie also von klein auf gelernt hat, war, in die eigenen Stärken zu vertrauen und daraus immer wieder neues entstehen zu lassen. Davon hat sie oft erzählt. Ich durfte meine Oma leider nie kennen lernen, da sie am anderen Ende der Welt starb, als meine Mutter mit mir schwanger war. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits selbst eine starke, unabhängige Frau, die seit 15 Jahren in einer völlig anderen Kultur lebte.
Ich glaube, das war gut für sie. Denn als wir Kinder kamen, war das einzige, wonach sie sich richten konnte, ihre Intuition. Sie hat uns so erzogen, wie sie es für richtig hielt. Niemand hat ihr reingeredet – Verwandte waren zu weit weg, und im deutschen Bekanntenkreis war sie die erste, die Kinder bekam. Wir haben alles gemacht, was man als Mittelstandsbürger in Deutschland eben so macht. Wir sind in den Kindergarten gegangen, wir haben eine musikalische Früherziehung genossen, waren im Sportverein aktiv… Natürlich haben wir alle Abitur gemacht, studiert, und zwei von dreien sind sogar promoviert bzw. gerade dabei. So, offiziell alles abgehakt, Mission accomplished. Im Rückblick könnten unbeteiligte jetzt sogar eine Tigermom vermuten. Sie hätte uns auch durchpeitschen können. Aber. Und das sage ich vollkommen ernst. Sie hat uns immer machen lassen, so wie wir es wollten, und uns dabei unterstützt, so wie wir es brauchten.
Das fing schon in der frühen Kindheit an. Wenn ich sie in den letzten zwei Jahren vollgejammert habe, dass meine Tochter kaum etwas isst – und wenn dann nur Reis oder Nudeln pur, dann lachte sie mich an und sagte, „Ja, du hast die ersten vier Jahre auch nur Reis gegessen. Lass sie. Solange sie gesund und heiter ist, ist alles gut.“ Ich bin auch trotz eintöniger Ernährung gut gedeiht, denke ich mal. Sie muss es gespürt haben, als ich mit 15 im Leistungssport immer unglücklicher wurde. Ich selbst habe es nicht gespürt. Sie sagte mir Jahre später, dass ich oft sehr müde war, und dass sie wirklich sehr besorgt war. Sie nahm mich aus dem Olympiastützpunkt raus, las etliche Bücher über Trainingslehre und trainierte mich selbst ab. Ich ging für ein Austauschjahr ins Ausland und kam als neuer, selbstbewusster Mensch wieder. Als hätte sie gewusst, dass ich es brauche und dass es wirken würde.
Sie arbeitete nie wirklich im Angestelltenverhältnis. Sie machte sich das zu eigen, was sie gerade brennend interessierte, egal, ob es sich damit Geld verdienen ließ oder nicht. Geld stand nie im Vordergrund. Wenn keins da war, dann hat sie uns eben die Kleidung genäht und gestrickt. Statt Ballettunterricht in einer Privatschule gab’s Modern Dancing im Freizeitheim fast für lau. Im Urlaub wurde an der Nordsee gezeltet. Wie herrlich waren die Zeiten, als wir morgens aus dem Zelt gekrabbelt sind und aus Schälchen unseren Milchkaffee (!) schlürfen durften. Man fühlte sich très francais. Wir bekamen dann etwas davon mit, wie sie und mein Vater die ersten Jahre in Europa – also Frankreich – verbrachten.
Obwohl sie schon in der Heimat studiert hatte, begann sie hier ebenfalls mit Studien – Kunst, Englisch, Deutsch – ja, sie war durch und durch Geisteswissenschaftlerin und Ästhetikerin. Sie fing auch mit einer Promotion an, als ich gerade im Abitur steckte. Aber dann entschied sie sich dagegen, weil sie in der Zwischenzeit auch so viel Freude am Training gefunden hat, dass sie viel lieber mit kleinen und großen Menschen an Bewegungstechniken und Entwicklungen gearbeitet hat. Sie war eine exzellente Trainerin. Und ich bin überzeugt, dass das auch damit zu tun hat, dass sie einfach auch eine tolle Mutter war. Und sie war eine großartige Unterstützerin. Als die Zeit der vietnamesischen Asylsuchenden kam, ging sie ins Heim und gab den Menschen dort Deutschunterricht. Sie nahm mich mit, weil ihre Aussprache nicht so gut war. Aber das hielt sie nicht davon ab. Viele von ihnen konnten hier Fuß fassen und haben mittlerweile eigene Familien gegründet. Es hielt sie auch nichts davon ab, deren Kindern Nachhilfeunterricht zu geben, obwohl sie schon lange nicht mehr firm in Schulthemen war. Es ging ja sowieso eher darum, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und sie zu stärken.
Meine Mutter war ein Mensch, der alles von innen und aus eigenem Wunsch heraus machte. Sie war aber dazu auch ein naturgegeben disziplinierter Mensch. Alles, was sie sich vornahm, tat sie auf ganzer Linie mit einem Plan. Als sie uns bekam, kaufte sie sich ein Buch über Rückbildungs-Yoga. Seitdem machte sie jeden (!) Morgen (!) ihre Übungen. Sie nahm sich in den letzten Jahren vor, die vietnamesische Vorkriegsliteratur zu archivieren und in die vietnamesische Weltcommunity zu tragen. Sie lernte, wie man einen Blog schreibt, wie man skypet, wie man Podcasts aufzeichnet – mit 70. Sie notierte sich jeden Tag die Zahl der Homepagebesuche und freute sich tierisch über Zugänge. Sie war vernarrt in Blumen. Sie fotografierte Blütenstände in ihrer Umgebung übers Jahr hinweg und erfreute sich tagtäglich an deren Schönheit. Sie freute sich einfach über viele Dinge. Und – hier schließt sich der Kreis zu meiner Oma – ihre Gelassenheit ermöglichte es ihr, Störendes aus dem Umfeld einfach auszublenden, wenn sie es für gesünder hielt. Sie konnte nämlich auch loslassen. Nie hat sie Dingen hintergetrauert, wenn sie mit ihnen abgeschlossen hatte.
Als ich arbeitsmäßig eine stressige Zeit hatte, sagte sie mal zu mir, „Weißt du, was ich an dir schon von frühester Kindheit an bewundert habe? Deine Gelassenheit. Die hast du von Oma. Die Fähigkeit, Dinge hinzunehmen, die du selbst nicht ändern kannst, und die Dinge zu ändern, die du in der Hand hast. Das ist eine besondere Stärke der Frauen in unserer Familie. Das vermisse ich gerade an dir. Verliere es nicht!“ Sie sagte nicht, was ich tun soll. Sie hat nie gesagt, was ich tun soll. Und doch brauchte ich immer unsere Gespräche, um wieder auf den rechten Weg zu finden. Ich vermisse sie so sehr. Und doch weiß ich, dass so viel von ihr in mir steckt, dass ich in Zukunft hoffentlich vieles von ihr am Leben halten kann.
Ich konnte jetzt bei weitem nicht alles so in Worte fassen, wie ich es empfinde, und es ist vielleicht auch etwas wirr. Ich hatte in meiner Mutter ein großes Vorbild, sowohl als Mensch als auch als Mutter. Dafür bin ich sehr sehr dankbar.